Spatia Historiae – Räume der Geschichte

Stefanie Unruh, Bildersammlung, 2015, Schwarz-Weiß-Fotoprint hinter Echtglas im SecSilikonverfahren, zweiteilig: 280 cm x 600 cm und 280 cm x 300 cm.

 

Zeichenhaft den kollektiven Geschichtsspeicher der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) darzustellen, war Anliegen des architektonischen Ausdrucks des neu gebauten Landeskirchlichen Archives. Das Archiv sollte als „Gedächtnis“ der Bayerischen Landeskirche, als gespeichertes Wissen von Hunderten von Jahren, als kollektives Gedächtnis Form annehmen, um die gesammelte Geschichte als Selbstbefragung, Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung einer Landeskirche darzustellen und öffentlich zu machen. Das Archiv ist eine Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart, eine Öffnung von Kirche nach außen hin: Geschichte in der Gegenwart zu bilden – darum geht es.

Nun sollte auch die Kunst zeichenhaft der Intention dieses kirchlichen Archives entsprechen. Dazu schrieb die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern einen Wettbewerb zur Erlangung von Entwürfen für eine „Kunstintervention“, bezogen auf den Neubau des Landeskirchlichen Archives in Nürnberg, aus. Es handelte sich um einen engeren, anonym ausgelobten Wettbewerb in einstufigem Verfahren. Dazu wurden acht Künstler aus den unterschiedlichsten Schaffensrichtungen eingeladen: Meide Büdel aus Nürnberg, Dellbrügge & De Moll aus Berlin, Mareike Drobny aus Erlangen, Malika Eilers aus Leipzig, Hans Schohl aus Marburg, Sabine Straub aus München, Stefanie Unruh aus München sowie Benjamin Zuber aus Berlin. Erwartet wurde eine künstlerische Intervention im Gebäude oder an den Außenanlagen des Gebäudes. Dabei bot sich neben der großen Freiterrasse an der Südseite des Gebäudes in erster Linie das Foyer an. Die zu entwerfende künstlerische Gestaltung sollte sich idealerweise an den speziellen räumlichen Situationen (Architekturstil, Material, Proportionen, Oberflächen, Farbigkeit) orientieren und Bezug zur Funktion des Archivs (Archivierung, Geschichtsspeicher, Erinnerungskultur) aufnehmen. Unter dem Vorsitz von Prof. Simone Decker vom Lehrstuhl für Kunst im Öffentlichen Raum an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg entschied sich die Jury am 23.9.2014 einstimmig für den Entwurf von Stefanie Unruh aus München.

„Der Entwurf ist mit ‚Bildersammlung‘ betitelt. Er besteht aus zwei wandfüllenden, fotografischen Arbeiten, die im Foyer installiert werden. Eine vierteilige Fotoarbeit mit Darstellungen von Innenräumen evangelisch-lutherischer Kirchen in Bayern an der linken Wand des Foyers, sowie eine zweiteilige Fotoarbeit mit Ansichten von Archivräumen an der hinteren Stirnwand des Foyers. Collagenartig sollen neu fotografierte Innenräume evangelischer Kirchen in Bayern aus verschiedenen Regionen mit historischen Fotografien aus dem Landeskirchlichen Archivs kombiniert werden. Mittels Fotomontage sollen die Aufnahmen über- und nebeneinandergelegt werden, sowie Schichten bilden, in denen einige Motive hervortreten, andere verschwinden. In der zweiten Arbeit sollen Innenräume des Landeskirchlichen Archivs mit Archivregalen fotografiert und in gleicher Weise montiert werden. Während sich der erste Teil der Arbeit mit dem Kirchenraum als Metapher für die Inhalte des Archivs beschäftigt, nimmt der zweite Teil unmittelbaren Bezug auf das visuelle Erscheinungsbild von Archiven und deren Räumlichkeiten.

Nach Meinung der Jury ist die Idee, einerseits körperlich erlebbare Räume abzubilden, andererseits in den Archivräumen, geistige Räume darzustellen sehr gelungen. Die Arbeit zeigt dem Besucher des Landeskirchlichen Archivs Inhalt und Zweck des Gebäudes in assoziativer und künstlerischer Verarbeitung und macht ihn neugierig auf die Bestände. Der inhaltliche Gedanke entspricht der Funktion des Landeskirchlichen Archivs, die formale Umsetzung wird als integrativ zum Architekturstil gesehen.“ (Protokoll der Jury vom 6.10.2014)

Die Umsetzung der Arbeit besteht aus zwei beinahe wandfüllenden, fotografischen Arbeiten, die im Foyer des Neubaus installiert sind: Der erste Teil, ‚Kirchenräume‘, ist eine vierteilige Arbeit, bestehend aus 73 über- und nebeneinander geschichteten, Schwarzweiß-Fotografien von Innenräumen und Objekten aus 30 evangelischen Kirchen, die in verschiedenen Regionen Bayerns aufgenommen wurden. Die Auswahl wurde in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Inventarisation der ELKB getroffen. Zu sehen sind Innenräume von Kirchen aus unterschiedlichsten Zeiten sowie eine Vielzahl von Raumformen und Stilen.

Der zweite Teil, „Archiv“, ist eine zweiteilige Arbeit, bestehend aus 58 über- und nebeneinander gelagerten Aufnahmen von sämtlichen Räumen des Landeskirchlichen Archivs Nürnberg sowie von ausgewählten Einzeldokumenten. Ganz verschiedene Einblicke mit unterschiedlichen Perspektiven — nebeneinander, übereinander, untereinander.

Die einzelnen Fotos der Innenräume werden nicht getrennt voneinander gezeigt, sondern sie fließen ineinander, die Grenzen sind nicht klar auszumachen, sie verfließen. Man wird erinnert an die utopischen Räume von Piranesi, vielleicht auch an die Arbeiten von M.C. Escher, in welchen Räume und Ebenen suggeriert werden, die reine Illusion sind.

Auffällig ist, dass es nicht einen, sondern zahlreiche Betrachterstandpunkte gibt. Man kann das Bild aus der Distanz betrachten, wird gleichzeitig jedoch vom Detailreichtum der Architekturen und deren Ausstattung angezogen. Es gibt viel zu entdecken und man wechselt ständig die Perspektive, um neue Raumeinblicke wahrzunehmen. Die Arbeit ist wie ein großes Puzzle mit unendlichen Figurationen, Versatzstücken und räumlichen Einblicken aufgebaut. Man kann zwar jedes einzelne Motiv ansehen, jedoch entsteht die Dynamik des Gesamtbildes durch die Folge der Einzelbilder und ihrer Montage miteinander. Der Blick wird geführt – assoziativ: „Bewegungszuweisung. Um einer unbeweglichen Gestalt Bewegung zu verleihen, muss man eine Reihe von Bildern erwecken, die sich aneinander reihen — kein einzelnes Bild: Verlust der ruhigen Betrachtung.“[1] Die Kraft der Arbeit kommt aus der Montage. „Genau das ist eine Montage: eine Interpretation, die nicht versucht Komplexität zu reduzieren, sondern sie im Sinne einer Komplexität zweiten Grades zu zeigen, vorzuführen, auseinanderzubreiten. Und das impliziert, dass man sie nur sprunghaft und kinematographisch scheinwerfend zu produzieren vermag.“[2] Stefanie Unruh wollte mit ihrer Arbeit „ein dialektisches Bild der Beziehungen zwischen den Bildern schaffen“[3]. Sehr bewusst ist das Bild angelegt als Schwarzweiß-Bild – mit unzähligen Grau-Abstufungen zwischen den Polen. Dabei werden die Einzelmotive jedoch nicht getrennt durch „Zwischenräume“ , sondern sie werden verschliffen — ihre Grenzen werden aufgelöst. Ein Motiv überlappt das andere, ein Raumeinblick scheint in den anderen hineinzulaufen.

Kunst wendet sich seit etwa 1970 dem Thema Erinnerung und kollektives Gedächtnis zu. Künstler versuchen, kollektive Erinnerungen zu thematisieren. Vielfältige Deutungsmöglichkeiten werden über ästhetische Modelle und gestalterische Experimente zur Verfügung gestellt. Fotos – wie in diesem Falle – sind nur Abbilder der dreidimensionalen erlebbaren Räume. Vielleicht ist diese Art der Collage aber in der Lage, Erinnerungsbilder im Betrachter zu erzeugen. Verbunden mit der Fähigkeit, auch Gerüche von alten Holzbänken, Kerzenduft, aber auch kirchlichen Mief – und vielleicht sogar Geräusche, wie das Knarren von Holzstufen, Glockengeläut, Orgelspiel, Gesänge – in der Erinnerung zu aktivieren. Das trifft in gleicher Weise auf das Archivbild zu: Man denkt an konzentrierte Stille, Staub, sterile Archivgerüche, und an das Umblättern von alten Pergamentseiten, hervorgerufen durch diejenigen, die dort arbeiten oder forschen. Man denkt an all die Geschichten, die dort niedergeschrieben und gespeichert sind.

Vielleicht gelingt es der Arbeit, sinnliche Erinnerungsbilder in uns wachzurufen. Bilder an Erfahrungen mit Kirche, mit Kirchenräumen mit kirchlicher Geschichte. Die Künstlerin selbst setzt sich in ihr Bild – nimmt so mit dem Betrachter auch Kontakt auf und versucht, ihn ins Bild zu ziehen. Bei Künstlern, die sich mit Erinnerungskultur beschäftigen, unterscheidet man zwischen Spurensicherern und Materialsammlern. Mit ihrer Bildersammlung stellt Stefanie Unruh eine Mischung dieser beiden Vorgehensweisen dar: Sie hat das Material, d.h. die Orte selbst besucht, hat sie begangen und dokumentiert. Anders als die Objektfotografien etwa von Bernd und Hilla Becher, die einer „Neuen Sachlichkeit“ zuzuordnen sind, liegen den fotografischen Einblicken in die Innenräume dieser Kirchen eher eine subjektive Herangehensweise und ein atmosphärisches Raumgefühl zugrunde. Es gibt nicht den „einen“ objektiven Betrachterstandpunkt pro Raum, sondern es sind viele – beinahe spontan ausgewählte Standorte. Bei allen Einblicken ist jedoch sehr schnell klar: Es handelt sich um ganz bestimmte, gefügte Räume. Der Raum als „spatium“ wird in jedem Motiv dargestellt. Das, was jedoch einen dreidimensionalen Raum ausmacht – Grenze, Kontur, Richtung, Volumen – wird von Stefanie Unruh verschleiert. Ähnlich wie auch manche Architekturstile, beispielsweise die Gotik oder der Barock ein Raumvolumen auflösen, so gelingt es der Arbeit, die gebauten Räume leicht und schwebend zu machen. Räume gehen ineinander über, Kapitelle fliegen durch die Luft, Emporen setzen sich in fiktive Tiefen fort, Engel und Heiligenfiguren schweben, Kreuze, Fresken, Inschriften, alles scheint in Bewegung. Der Betrachter wird fiktiv in die Räume hinein gezogen – mit den Mitteln der Darstellung von Atmosphäre: „Dabei ist an die architekturalen Formen in Hinblick auf ihre Anmutungsqualitäten, insbesondere die Bewegungssuggestionen zu denken, ferner an Licht und Dämmerung, das Steinerne, an Figuren und Bilder, an die akustischen Qualitäten des Raumes, an Farben, an Materialien, an Insignien des Alters und schließlich natürlich auch an die christlichen Symbole, die ja auch bei profaner Nutzung oder Betrachtung ihre Wirkung tun.“[4] Mit der Wahl des Mediums der Collage stellt Stefanie Unruh Sehgewohnheiten auf die Probe. Die Fotografie wird in der gesamten Komposition als integrale ästhetische Komponente benutzt. Zwei Dinge sind entscheidend: Zum einen verbindet Stefanie Unruh ihre Schwarzweiß-Fotos mehr oder weniger organisch und geht damit nach traditionellen Kompositionsschemata vor. Zum anderen bleibt sie konsequent in der Fläche – die Collage wird auf digitalem Wege hergestellt. Die Sammlung der Räume wird als ein homogenes Bild mit einer gemeinsamen Oberfläche dargestellt. Die Arbeit lässt eine assoziative Raum- und Objektverbindung zu – ja fordert geradezu einen ständigen Perspektivenwechsel des Betrachters. Dies führt zu einem wiederholten Überdenken der eigenen Haltung im Raum. Und das ist durchaus protestantisch gedacht.

Helmut Braun

 


[1]       Aby Warburg, 1888-1905, S. 42 (Eintragung vom 29. September 1890). In: Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder, Berlin 2010. S. 534, Anm. 609

[2]       Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder, Berlin 2010. S. 546

[3]       Ebd. S. 546

[4]       Böhme, Gernot. Architektur und Atmosphäre. München 2006. S. 142